Es ist Samstag, der 17. Juli 2010 gegen 19 Uhr. Ich verlasse das Race-Briefing zur ersten Auflage der Tour du Mont Blanc im kleinen Bergdorf Les Saisies in den französischen Savoyen. Viel Neues habe ich nicht erfahren. Das Übliche halt: Abfahrtszeit, Streckenbeschilderung, die Straßen sind nicht gesperrt, unbedingt an die Verkehrsregeln halten, wo befinden sich die Verpflegungsstellen und nicht zuletzt die Kontrollpunkte mit den Karenzzeiten. Wie gesagt, das Übliche halt. Aber: Ein Radmarathon, für den es am Vorabend ein eigenes Race-Briefing gibt, das deutet schon irgendwie auf ein besonderes Ereignis hin. Bei einem normalen Radmarathon holt man sich seine Startnummer ab, teilweise sogar erst am Tag des Rennens selbst, und gut ist’s. Die Tour du Mont Blanc ist aber beileibe alles andere, als ein normaler Radmarathon.
Die Kombination aus Streckenlänge und der zu bezwingenden Gipfel sucht in der Marathon-Szene ihresgleichen. Der Schauplatz des Spektakels ist das Mont Blanc Massiv. Genauer gesagt umrundet die Strecke dieses Marathons das Mont Blanc Massiv. Start und Ziel ist der Col des Saisies. Kenner dieser Region werden sich jetzt schon ihren Teil denken. Für alle anderen zur Erklärung: für die Umrundung des Mont Blanc Massiv gibt es nicht viele Alternativen. Und mit dem Rad scheidet natürlich auch der Mont Blanc Tunnel aus. Die Alternative, für die sich der Veranstalter entschieden hat ist fast die kürzeste und wartet mit einer Streckenlänge von 330 Kilometer und 8000 Höhenmeter Anstieg auf. Die Namen klangvoller Pässe säumen die Strecke: Col des Montets, Col de la Forclaz, Col de Champex, Col de Grand Saint-Bernard, Col der Petit Saint-Bernard, Cormet de Roselend und schließlich der Schlussanstieg hoch zum Ausgangspunkt nach Les Saisies. Und genau aus diesem Grund verlasse ich auch das Race-Briefing eben auch irgendwie schweigend und mit Respekt. Respekt vor der Strecke, auch wenn die Fakten nicht überraschend sind.
Gegessen habe ich schon vor dem Race-Briefing, also nichts wie ab ins Bett, denn der Startschuss für dieses Radsport Abenteuer fällt bereits vor dem Morgengrauen um 5 Uhr. In diesem Fall ist 3 Uhr aufstehen mit anschließender Frühstücks-Völlerei Pflicht.
Knapp 8 Stunden später: Es ist kurz nach 3 Uhr und es duftet nach frischem Kaffee in meinem Apartment. Das Rad liegt bereits im Auto. Die kleine Aufwärmübung von Hauteluce hoch nach Les Saisies fällt aus verständlichen Gründen aus. Das Aufwärmen überlasse ich heute dem Auto. Mein Schlaf war sehr kurz, aber trotzdem erholsam. Nach einer ausgiebigen Dusche (meine eigentliche Aufwärmübung), zwei fett belegten Semmeln, einem Croissant mit Honig, einem reichhaltigen Müsli, Obst, einem Ei und 3 Tassen Kaffee fühle ich zu allem bereit. Wer noch nie einen Marathon gefahren ist, wird sich nun vielleicht fragen „Wie kann man mit so viel Essen im Bauch noch Berge radeln?“ Die Antwort ist „Man kann … und zwar nur so“. Die Diätvariante geht in jedem Fall bei einer solchen Veranstaltung schief. Außerdem geht es auf den ersten 40 km bis Saint-Gervais-les-Bains erst einmal fast nur bergab. Da kann etwas zusätzliches Gewicht (Stichwort „Hangabtriebskraft“) nur nützlich sein 🙂
Ein Blick zum Himmel lässt Gutes für den Tag erahnen. Es ist zwar noch stockfinster und mit 7 °C sehr frisch als ich ins Auto steige, aber der Himmel sieht trotz einiger Wolken nicht unbedingt nach Regen aus. Regen bei einen solchen Tour ist schon fast ein Killer-Kriterium. Ich bin schon viele Marathons bei Regen gefahren, aber lustig ist was anderes…Und 330 km über die höchsten Alpenpässe bei Regen, daran will ich gar nicht erst denken.
Während ich mein Auto hoch nach Les Saisies zum Start lenke und auf die Straße schaue denke ich nach. Darüber, dass ich hier vielleicht irgendwann heute noch mit letzter Kraft am Abend oder in der Nacht hochkurbeln werde. Die Strecke von Hauteluce hoch zum Col des Saisies auf der ich gerade durch die Nacht fahre, ist identisch mit dem Schlussanstieg der Tour du Mont Blanc. Es ist keine furchteinflößende Steigung, aber nach 310 km sieht jeder Anstieg anders aus. Das hatte ich schon vor 3 Jahren beim La Marmotte erfahren. Beim Radmarathon „La Marmotte“ führt der Schlussanstieg die legendäre Rampe hoch nach Alpe d’Huez. Ich bin die Alpe am Vortag des Rennens hochgefahren um die Startnummer abzuholen. Ein netter Anstieg. Ich bin ihn am Vortag des Rennes langsam hochgefahren um die Startnummer zu holen. Es gibt unzählige Anstiege in den Alpen, die anspruchsvoller und anstrengender sind. Am Tag des Rennes nach 160 km, dem Glandon, dem Télégraphe und Galibier in den Beinen sah die Sache dann aber komplett anders aus. Sicherlich nicht unmöglich, aber eben auch unvergleichlich zu Vortag. Eben anders und viel schwieriger.
Zurück nach Les Saisies. Es ist kurz nach 5 Uhr morgens. Mit ein paar Minuten Verspätung erfolgt der Start und das Feld rollt von Les Saisies hinunter ins Tal Richtung Saint-Gervais-les-Bains. Der erste Teil der Abfahrt ist wirklich beeindruckend. Bereits kurze Zeit nach dem Start zieht sich ein langgezogener Steifen aus weißen und roten Lichtern den Berg hinab. Und während das Fahrerfeld im Rausch der Geschwindigkeit dem Tal entgegen strebt, wechselt der Horizont ganz langsam, zunächst fast unmerklich, sein Aussehen. Das tiefe schwarz der Nacht wechselt fast unmerklich in ein sonderbares schwarzblau, vor dem sich die Schattenrisse der Bergketten abzeichnen. Auf der Abfahrt ist es frisch, aber ich friere nicht. Der eben beschriebene Anblick, der sich mir hier im Morgengrauen bietet, ist viel zu schön um zu frieren. Müsste ich mich nicht auf die Straße konzentrieren könnte ich mich in dem Anblick verlieren. Eine kurze Flachpassage zwischen Notre-Dame-de-Bellecombe und Saint-Gervais-les-Bains sorgt dann letztlich dafür, dass nicht nur die Seele, sondern auch der Körper warm wird. Nach einer vorläufig letzten Abfahrt von Megève runter nach Saint-Gervais-les-Bains ist dann erst einmal Schluss mit Beine hochlegen. Richtung Chamonix geht es nun zum ersten Mal zur Sache. Zwar ist die Steigung sehr moderat (im Mittel ca. 3,1 % bis Les Houches), aber von alleine rollt hier jetzt nichts mehr. Immerhin ist die Straße recht nett. Als ich mit dem Auto vor ein paar Tagen auf der E25 aus Richtung Chamonix nach Les Saisies gefahren bin, habe ich mich schon sehr interessiert gefragt, wie wohl die Strecke in Richtung Chamonix auf diesem Teilstück verlaufen soll. Toll sah das auf der Schnellstraße nämlich nicht aus. Das Tal ist sehr eng. Viel Platz für eine nette Nebenstraße schien da nicht zu sein. Die Straße von Saint-Gervais-les-Bains über Servoz, Les Houches und Les Bossons nach Chamonix beeindruckt mich nun dagegen schon sehr. Klein aber fein. Dazu kommt, das ich mich die meiste Zeit in netter Gesellschaft eines Franzosen aus Carcassone befinde: Albert Bertrand. Bis zum Forclaz fahren wir immer mal wieder zusammen und unterhalten uns gut. Ist schon witzig, aber der blöde Spruch „die Zeit vergeht wie im Flug“ stimmt manchmal wirklich, denn bis zum Col des Montets hinter Chamonix (Kilometer 80 nach knapp 3 Stunden) läuft das Rennen fast von alleine. Anstrengung: Fehlanzeige!
Auch das Wetter ist die Wucht und trägt seinen Teil dazu bei, dass meine Stimmung wirklich prächtig ist. Es ist zwar erst 8 Uhr und immer noch recht frisch, aber die Sonne bahnt sich bereits fast unbedrängt von erstzunehmenden Wolken ihren Weg nach oben. Einen Augenblick lang lässt dieses gewisse untrügliche Gefühl erahnen, dass das genau DER richtige Tag ist. In diesem Augenblick weiß man, das man genau an solch einem Tag so ein Rennen fahren muss. Während wir durch Chamonix fahren hängen noch ein paar Wolken in den schneebedeckten Gipfeln, aber immer mehr blaue Flecken deuten schon jetzt auf einen denkwürdigen Sommertag in den Bergen hin. Was auch immer passieren wird, ich weiß, dass das hier ein unvergleichliches Erlebnis werden wird!
Kurz hinter Chamonix wartet bei Argentière mit dem Col des Montets der erste kleine Pass des Tages. Allerdings fällt der offizielle 1461 m hohe Pass irgendwie gar nicht so richtig auf. Offensichtlich sind meine Gedanken schon ganz bei den Alpenriesen, die da bereits auf mich warten. Und so drücke ich den kleinen Montets einfach gedanklich weg. Von Chamonix aus hat der Montets übrigens auch gerade mal knapp 500 Höhenmeter. In Summe gerade mal 1300 Höhenmeter Anstieg hat man bis hierher in den Beinen. Das erste Drittel der Strecke zieht sich zwar, aber zum Einrollen und locker werden ist das genau das Richtige. Und entschädigt wird man zudem durch die unglaublich spektakulären Ausblicke auf das Mont Blanc Massiv, die man immer wieder erhaschen kann.
Kurz hinter Vallorcine geht es nach einer kleinen aber feinen Abfahrt hinein in die Schweiz. Bezogen auf die gesamt Strecke ein kurzes Intermezzo. Aber mit dem Großen St. Bernhard Pass hat es dieses Intermezzo in sich. Links erhasche ich gerade noch einen kurzen Blick auf den Lac d’Émosson, bevor der unmittelbar nach dem Passieren der Grenze der Anstieg zum 1527 m hohen Col de la Forclaz beginnt. Allerdings ist auch der Forclaz mit seine 400 Höhenmetern Anstieg noch keine so richtige Herausforderung. Einerseits ist der Anstieg mit ca. 8 km relativ kurz und die Steigung mit ca. 5% nur moderat. Andererseits lohnt es sich zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht so richtig Tempo zu machen. Der Tag ist noch lang und die richtigen Hämmer kommen ja erst noch. Und dann dieses Panorama! Die Haarnadelkurve kurz vor der Passhöhe des Forclaz gibt an diesem klaren und sonnigen Tag einfach nur atemberaubende Blicke auf die 4000er des Aiguille du Dru, Aiguille Verte und Aiguille du Jardin frei. Zu diesem Zeitpunkt ist im Anstieg ist auch noch genug Zeit für die eine oder andere kurze Unterhaltung. Die richtige Krafteinteilung ist halbe Miete und bis hierher läuft alles nach Plan. Nach 1700 Höhenmetern und 100 km fühlen sich meine Beine noch super an. Die Vorbereitungsrennen „La Ventoux“ und „Les 3 Ballons“ ein paar Wochen vorher zeigen bereits jetzt, dass sich die intensive Vorbereitung echt ausgezahlt hat. Wobei natürlich auch jedes dieser sogenannten „Vorbereitungsrennen“ selbst ein echter Saisonhöhepunkt war. Aber dann heißt es alle bisherigen Saisonhöhepunkte gedanklich zur Seite schieben. Es gilt, sich auf die erste richtig anspruchsvolle Abfahrt des Tages vom Forclaz hinunter nach Martigny zu konzentrieren. Immerhin ist die Straße in einem super Zustand. Es gibt viele lange, breite und kerzengerade Straßenabschnitte. Bei einem Durchschnittsgefälle von ca. 7,7 % auf 13 km kommt ein echter, erster Geschwindigkeitsrausch auf. Der Blick hinunter zum tief unten im Tal liegenden Martigny ist faszinierend. Wenn man sich doch nur nicht so auf die Abfahrt konzentrieren müsste. Und dann, obwohl ich nun wirklich nicht gerade mit Lichtgeschwindigkeit den Berg runterfahre, passiert es…nein, glücklicherweise kein Sturz und auch keine Panne. Aber trotzdem äußerst ärgerlich. Ich bin mit 60 – 70 km/h voll konzentriert auf die Straße und eigentlich ist die Strecke auch gut ausgeschildert. Zudem habe ich mir vorab auch das Roadbook angeschaut. Als ich jedoch in der Abfahrt eine größere Abzweigung nach rechts unten passiere, bin mir für einen Wimpernschlag nicht sicher, ob der Wegweiser nicht doch rechts runter ging. Ich zögere 2 Sekunden und bin natürlich schon einigen hundert Meter weiter unten. Jetzt einfach weiterfahren und unten in Martigny festzustellen, dass ich 6 km weiter oben hätte rechts abbiegen sollen? Das wäre irgendwie schon absolut dämlich. Ich steige in die Eisen. Bei dem Speed bringe das Rad erst ein paar hundert Meter nach der Abzweigung zum Stehen. Hilft nichts. Umdrehen und nachschauen. Irgendwie komme ich mir schon komisch vor bei Hochfahren, aber was soll’s. Es hat auch schon Profis gegeben, die zum Ende eines Rennens völlig verwundert disqualifiziert wurden, weil sie völlig unbewusst eine „Alternativstrecke“ gewählt haben. Oben an besagter Abzweigung angekommen stelle ich dann fest, dass ich doch nicht auf dem Holzweg gewesen wäre. Ich hake den Vorfall mehr beruhigt als verärgert ab und nehme schnell wieder Fahrt auf in Richtung Martigny. Warum sollte ich mich schon über 2 Minuten Zeitverlust ärgern: ich bin erst mal 4 Stunden unterwegs und der Tag hat gerade erst begonnen.
Unten angekommen im Tal sorgt die Morgensonne bereits für angenehme 20 °C. Im sanften Anstieg folgt der Streckenverlauf nun der E27 Richtung Großer Sankt Bernhard Pass. Allerdings währt der sanfte Anstieg nicht wirklich lange. Wenige Kilometer hinter Martigny in Les Valettes, ungefähr bei Kilometer 110, verlässt die Strecke die Kantonsstraße. Der Weg über Sembracher, weiter auf der Kantonsstraße wäre sicherlich deutlich einfacher und kürzer. Allerdings wäre dieser Weg mit Sicherheit auch nicht halb so schön wie das, was nun hoch zum Col de Champex folgt. Zudem möchte der Veranstalter auf 8000 Höhenmeter kommen und das geht eben nicht über Sembracher, sondern nur über den Col de Champex.
Aber bevor es bergan und nach Champex geht, ist erst einmal Pause angesagt. In Les Vallettes ist die erste größere Verpflegungsstelle. Zudem ist hier der erste Kontrollpunkt für die Zwischenzeit. Es ist gerade einmal 9:17 als ich in Les Valettes eintreffe. Das Zeitlimit für die Passage bei Les Vallettes ist mit 11:00 Uhr angegeben. Das heißt für mich: alles voll im grünen Bereich! Ich steige also erst einmal vom Rad und bediene mich ausgiebig an belegten Brötchen, Obst und vor allem an allem Flüssigen, denn mittlerweile klettert das Quecksilber schon gegen 25 °C. Naja, 1000-mal besser als Regen, Kälte und Schmuddel-Wetter. Denn jetzt geht es mit den Bergen ja erst so richtig los! Der Col de Champex ist zwar mit 1498 m Höhe etwas niedriger als der Forclaz, allerdings geht’s jetzt auf ca. 600 m Höhe los. Die nächsten 12 km bieten eine Durchschnittsteigung von etwa 7,5 %. Als ich nach einer guten viertel Stunde die kleine Pause beende, und mich wieder aufs Rad setzte fühlen sich die ersten Kilometer ganz schön zäh am. Die kleine malerische Straße, die sich in vielen Kehren nach Champex hochwindet, entschädigt so gut sie das kann für die Anstrengung. Der Aufstieg dauert eine gute Stunde, und mit jedem Kilometer läuft es wieder besser. Oben angekommen passiere ich auf der Passhöhe den kleinen, hübschen Ferienort Champex der am gleichnamigen See liegt. Ich muss zugeben, ich habe vorher noch nie was vom Col de Champex (1498 m) gehört. Ich kann nur jedem Radler raten, diesen Pass einmal mitzunehmen. Die meisten denken bei dieser Route um das Mont Blanc Massiv vielleicht zuerst an den Col du Grand Saint-Bernard. Allerdings ist der Umweg über den Champex wirklich jede Anstrengung wert – übrigens anders als der Anstieg zum Großen Sankt Bernhard Pass wie wir gleich hören werden… Es folgt eine kurvige und schöne Abfahrt hinunter nach Orsières. Hier trifft die Route der Tour du Mont Blanc nach 130 km nun wieder auf die E27. Und hier beginnt nun auch direkt der Anstieg zum Großen Sankt Bernhard Pass.
Knapp 2700 Höhenmeter Anstieg nach knapp 6 Stunden Fahrt zeigt mein kleiner Tacho nun an. Kurzer Check. Beine: fühlen sich noch frisch an. Wetter: sonnig, warm bei 22 – 23 °C. Allgemeines Befinden: Super! Allerdings sind die vor mir liegenden 26 km Anstieg hoch zur Passhöhe nun doch schon furchteinflößend. Hinzu kommt eine leichte Unsicherheit bezüglich der Verpflegung. Ich habe zwar in Les Vallettes alle Flaschen und Trikottaschen gefüllt, aber bis ganz oben an der Passhöhe kommt nun keine offizielle Verpflegungsstelle mehr. Und der Champex hat schon einmal fast ein ganzes Wasser-Bidon gekostet. Wenn das mal reicht…Immerhin kann man sich ja noch selbst verpflegen und was kaufen. Das ist nie verboten. Der Anstieg zum Großen Sankt Bernhard Pass hat allerdings auch in dieser Hinsicht seine Tücken. Ich kenne die Strecke ein wenig und viele Gaststätte, Tankstellen oder gar Ortschaften gibt es auf den folgenden 26 km nicht. Einfach mal in den nächsten Supermarkt neben der Straße gehen ist hier nicht drin. Also gilt hier noch viel mehr als sonst: Augen auf und rechtzeitig nachtanken. Sonst kommt der Mann mit dem Hammer schneller als mir lieb ist. Der Schnitt, den ich auf den nun folgenden 20 km hinlege ist nicht wirklich berauschend. Es läuft so dahin. Der Schnitt liegt so bei 13 km/h und so richtig genießen mag ich die Strecke trotz des tollen Wetters und der grandiosen Berglandschaft auch nicht. Der Hauptgrund liegt am unmittelbaren Ambiente, das die Hauptstraße hier bietet. Es ist Sonntag und es ist recht reger Verkehr. Eigentlich stören mich solche Nebensächlichkeiten sonst eher nicht. Das Problem bei dieser Strecke ist, dass die Straße immer wieder durch Galerien und Tunnels führt. Es ist eng und zumeist auch ohrenbetäubend laut. Ich bin den Großen Sankt Bernhard Pass mittlerweile schon ein paar Mal gefahren und würde behaupten, dass der „Große Bernhard“ nicht mein Lieblingspass wird. Vielleicht könnten wir beide ja mal an einen autofreien Tag Freundschaft schließen. Die umgebende Landschaft hätte eigentlich eine Liebeserklärung verdient. Ich mache zwei kleine Stopps. Eine kleine Tankstelle irgendwo im Anstieg bewahrt mich zwischenzeitlich vor dem drohenden Austrocken. Zwar wird es im Anstieg immer kühler, aber wer in der Kälte schwitzt, der schwitzt eben trotzdem noch. Kurz hinter dem Lac de Toules verzweigt sich die Straße dann endlich: Während sich die Hauptstraße und damit auch der Hauptverkehr durch den Tunnel wälzen biege ich auf der kleineren Straße zur Passhöhe nach rechts ab. Natürlich macht das jetzt natürlich die Fahrt auf den nächsten 6 Kilometern nicht einfacher. Die Steigung zur Passhöhe zieht abrupt von durchschnittlich 5,5 % auf durchschnittlich 8,6 % an. Andererseits denke ich mir: endlich Ruhe und ich kann diese grandiose Hochgebirgslandschaft etwas mehr genießen. Und siehe da: gleich habe ich das Gefühl, dass es besser läuft. Wie ich später feststellen werde, werde ich in Wahrheit deutlich langsamer. Aber das ist eben der Unterschied. Die reinen Daten des Radcomputers sind das Eine. Wie man sich tatsächlich fühlt ist das Andere. Ich bin kein Profi und daher zählt unterm Strich finde ich Letzteres…
Der Anstieg zum Großen Sankt Bernhard hat es echt in sich, aber die letzten 6 Kilometer versöhnen für die Strapazen der ersten 20 Kilometer des Anstiegs seit Orsières.
Nach zweieinhalb Stunden erreiche ich die Passhöhe um 13:30. Nun bin ich seit ungefähr 8,5 Stunden im Sattel und unterschreite das das Zeitlimit von 14:00 Uhr auf der Passhöhe noch ganz gut. Auch habe ich nun schon 4240 Höhenmeter und 157 km auf dem Buckel. Halbzeit also! Jedoch habe ich im Vergleich zum Kontrollpunkt „Les Vallettes“ doch schon einiges von meinem Zeitpolster eingebüßt. Naja, nur keine Hektik aufkommen lassen, das wäre jetzt grundverkehrt. Das Wetter hält und die Sonne scheint, aber es ist schon extrem frisch hier oben auf 2469 Meter über dem Meer.
Ich bin froh, dass ich meinem Beutel mit extra Kleidung und Verpflegung genau hier deponiert habe. Ich ziehe mich kurz um und mach dann erst einmal 15 Minuten Pause und esse ausgiebig. Mein Puls bei der Ankunft oben auf der Passhöhe hatte mir gezeigt, dass die körpereigenen Speicher nicht mehr wirklich gut gefüllt sind. Die nächste größere Verpflegungsstelle ist leider erst im Aostatal. Für den Moment heißt das, so viel essen und trinken wie nur reingeht. Immerhin ist der höchste Punkt der Tour du Mont Blanc gemeistert. Alle anderen Pässe sind niedriger. Das erscheint auf den ersten Blick beruhigend. Zu beruhigend. Die noch bevorstehenden Anstiege sind keinesfalls zu unterschätzen. Vor allem der Anstieg zu kleinen Sankt Bernhard hat es in sich. Der Anstieg ist zwar etwas „flacher“ (bei 5 % sollte man eigentlich nicht von flach sprechen) aber mit 30 Kilometern Länge noch einmal um 4 Kilometer länger als das was ich gerade hinter mich gebracht habe. Kurz vor 14 Uhr fühlt sich dann wieder alles locker an und ich nehme die Abfahrt unter die Räder. Und was für eine Abfahrt das ist! Der Oberhammer! Etwas Vergleichbares ist schwer zu finden.
33 Kilometer mit durchschnittlich 5,2 % Gefälle. Ich bin kein toller Abfahrer, aber das macht nun wirklich einen Heidenspaß. Und während ich so gen Tal schieße wird es auch immer wärmer. Ich bin im siebten Radler-Himmel. Die Gaudi nimmt erst in Aosta an der Abzweigung Richtung Courmayeur ein Ende.
Bis zur nächsten Zeitkontrolle und großen Verpflegungsstelle im Aostatal sind es von hier aus nur noch ungefähr 23 Kilometer. Die Straße steigt leicht an, was nicht ganz so schlimm ist. Das kleine Problem hier unten ist nun jedoch die fast erschlagende Hitze, die bei der Abfahrt noch so angenehm war. Es ist jetzt fast 15 Uhr und die Sonne brennt unbarmherzig von oben herunter. Das Aostatal hat die Hitze im Laufe des Tages begierig aufgenommen und nun zeigt das Thermometer sagenhafte 37 °C im Schatten an. Leider hat es hier keinen Schatten. Aber mein Motto in solchen Fällen ist und bleibt: lieber so als bei 10 °C und Regen. Also lächeln, dankbar sein und immer locker weiter kurbeln ohne Murren und knurren :-).
Nach 10 Stunden und 42 min Fahrt erreiche ich also den nächsten großen Verpflegungspunkt bei La Salle im Aostatal. Ich liege zwar noch gut in der Zeit, jedoch hat meine Frische unter der Hitze etwas gelitten. Ich beschließe eine längere Pause von 15 Minuten zu machen und ausgiebig zu essen und zu trinken. Klingt eigentlich nach einem guten Plan. Jedoch nicht ganz so ganz ideal, wie sich bald herausstellen sollte. Richtig wäre gewesen die Pause kurz zu halten und während der Fahrt zu essen. Als ich mich einige Zeit später wieder aufs Rad schwinge merke ich bald, das die Spannung weg und der Schwung raus ist. Meine Vermutung: die Pause war zu lang. Die volle Konsequenz spüre ich dann nach weiteren 6 Kilometern als die Strecke bei Pré-Saint-Didier in Richtung La Thuile hoch zum Kleinen Sankt Bernhard Pass abbiegt. Ich bekomme plötzlich keinen Druck mehr auf’s Pedal. Mein Puls ist im Keller. Immerhin funktioniert mein „Diesel“ zwar noch und ich fühle mich im Anstieg nicht schlecht. An Beschleunigung ist aber nicht mehr zu denken. So ein Mist! Bei diesem Schneckentempo (durchschnittlich 11 km/h) läuft die Zeit voll gegen mich. Immerhin kann man bei der Auffahrt zum Kleinen Sankt Bernhard wirklich jeden einzelnen Kilometer genießen – ganz im Gegensatz zu seinem großen Namensvetter. Der Petit Saint Bernard ist wirklich ein MUSS in jeder Pässe-Sammlung eines Radfahrers!
Nach 13 Stunden und 41 Minuten erreiche ich um fast schon 19 Uhr die Passhöhe des kleinen Sankt Bernhard auf 2188 Meter über dem Meer. Gesamtstrecke bis hierher: 244 km. Gesamtanstieg: 5800 m.
Ich liege wirklich nicht mehr gut in der Zeit und eine kurze Pause brauche ich auch noch, bevor ich in die Abfahrt gehe. Ob das noch reicht zum Finishen? Die Frage ist überflüssig, weil unwichtig! Im Moment! Alles was ab hier kommt ist ohnehin Zugabe. Und vor allem kommt jetzt erst einmal noch eine Abfahrt und dann sehen wir weiter. Ich hatte an diesem Tag zwar schon frischere Momente, aber K.O. fühle ich mich bei weitem noch nicht. „S‘ geht halt nimmer so schnell, aber s‘ geht no“. An dieser Aussage besteht kein Zweifel! Kurz nach 19 Uhr schieße ich dem Sonnenuntergang entgegen, runter ins Tal nach Bourg-Saint-Maurice.
Nur nichts riskieren. Ein paar km/h mehr auf der Abfahrt bringen zeitlich rein gar nichts. Hauptsache sicher, ohne Panne aber trotzdem einigermaßen flott nach unten kommen. Und dann wieder angreifen auf den nächsten Anstieg zum Cormet de Roselend.
Sicher und flott runtergekommen bin ich schon, aber das mit dem „Angriff“ auf den Cormet de Roselend wollte anschließend nicht so richtig klappen. Es ist bereits viertel vor acht, als ich in Bourg-Saint-Maurice den Ausgangspunkt für die Kletterpartie auf den 1968 m hohen Cormet de Roselend unter die Räder nehme. Die Straße Richtung Pass wirkt bereits ausgestorben. Die vor kurze noch brennende Sonne schickt jetzt gerade noch ihre letzten Strahlen über die Bergketten. 20 Kilometer Anstieg mit guten 1200 m Höhendifferenz stehen nun auf dem Plan. So richtig überzeugen kann mich meine erste „Attacke“ auf den Cormet de Roselend nicht. Mein Puls gurkt trotz der nicht gerade flachen Straße irgendwo zwischen 120 und 130 rum. Ich weiß das bedeutet nichts Vielversprechendes. Also ab in den Sparmodus: geben was drin ist, aber ja nicht überzocken. Von wenigen Ausnahmen zu Beginn des Anstiegs abgesehen pendelt sich die digitale Tachonadel nun im Schnitt bei 10 km/h ein. Meine Güte, bis ich da oben am Roselend bin ist es ja fast 22 Uhr! Hochsommertag hin oder her, um die Zeit ist es dann doch schon stockfinster. Nicht dass für mich radeln bei Dunkelheit grundsätzlich ein Problem wäre. Aber irgendwie muss ich ja den Pass ja wieder runterfahren wenn ich zum Ziel will…Ich schiebe weitere Gedankengänge beiseite und konzentriere mich erst einmal auf die Aufgabe direkt vor mir. Das ist hart genug. Die D902 verläuft zunächst ohne viele Schnörkel aus Bourg-Saint-Maurice in Richtung Norden. Erst bei Crête Bettex nach ca. 6 Kilometer tauchen die ersten Kehren auf. Es ist fast halb neun und die Dämmerung taucht das Tal, in dem ich mich Meter für Meter in Richtung Gipfel bewege, in ein unwirkliches Licht. Bei aller Anstrengung und aller Mühe: diese karge Berglandschaft der Savoyen in der untergehenden Sonne ist wirklich beeindrucken. Was die Fahrt um diese Zeit zusätzlich besonders macht ist die Stille die mich umgibt. Das hier ist eine Radsportveranstaltung mit gut 100 und kein Öztaler mit 10000 Teilnehmern. Das bedeutet, dass sich nach knapp 300 Kilometern das Fahrerfeld komplett verlaufen hat. Bereits seit dem Kleinen Sankt Bernhard fahre ich absolut solo. Auch der Autoverkehr der Sonntagsausflügler ist um diese Uhrzeit bereits verebbt. Das dominierende Geräusch in dieser Stille ist mein eigener Atem. Als ich die Kehren erreiche, erkenne ich in der Ferne einen Mitstreiter. Wie weit der wohl weg ist? Es sieht nicht so weit aus, aber in Wirklichkeit ist er unerreichbar, das ist mir klar. Entfernungen in den Bergen sind trügerisch. Meistens gaukeln einem die Berge Nähe vor. Tatsächlich ist alles unendlich weit entfernt. Immerhin: ich komme dem anderen Fahrer zwar nicht näher, aber ich kann ihn im Blick behalten. Kurbeln, einfach immer weiterkurbeln. Irgendwann komme ich schon oben an. Mit 10 km/h dauert das zwar etwas länger, aber oben ankommen werde ich. Das Witzige ist, dass ich mich bei weitem nicht erschöpft fühle. Erschöpfung definiere ich ganz anders, das weiß ich spätestens seit dem „La Ventoux“ im Juni. Ich kann nur hier und jetzt einfach nicht mehr beschleunigen. Ich habe das Gefühl, ich könnte ewig so weiterfahren. Nicht gerade nach einer ganzen, aber nach einer gefühlten Ewigkeit erreiche ich endlich die Passhöhe des Cormet de Roselend auf 1968 m.
Die nüchternen Daten bis hierher:
Fahrzeit: 16 Stunden, 39 Minuten und 17 Sekunden.
Strecke: 300 Kilometer
Aufstieg: 7000 Höhenmeter
Es ist kurz vor 22 Uhr. Der letzte Schimmer des Tageslichts verschwindet in der Ferne hinter den Bergen. Oben an der Passhöhe steht das „voiture-balai“ – der gefürchtete Besenwagen. Zu meiner Überraschung stehen auch noch ein paar andere Teilnehmer herum. Alle Fahrer, die um diese Zeit noch am Cormet der Roselend stehen, liegen klar, also ca. 1 Stunde außerhalb des Zeitlimits. Der Veranstalter spricht mit den Teilnehmern. Jeder kann gerne noch weiterfahren, jedoch ohne Startnummer und damit absolut auf eigene Verantwortung. Ich hatte schon kurz vor dem Erreichen des Gipfels meinen diesbezüglichen Gedankengang von Bourg-Saint-Maurice wieder aufgenommen: Bringe ich das hier zu Ende? Muss ich das hier zu Ende bringen? Von der Passhöhe bis hinunter nach Beaufort sind es 20 km Abfahrt. Geschenkt! Das Problem dabei: Es ist absolut stockdunkel und ich kenne die Strecke nicht. Die kleine Funzel, die ich heute früh beim Losfahren verwendet habe, ist hier keine richtige Hilfe. Außerdem sitze ich seit mittlerweile fast 17 Stunden im Sattel. Ein kleiner Fehler in der Abfahrt könnte fatal sein. Und eine Stunde lang den Berg runter bremsen will ich auch nicht. Die knapp 15 km und 1000 Höhenmeter Anstieg nach Les Saisies wären sicherlich nicht das Problem. Irgendwann nach weiteren eineinhalb Stunden würde ich da oben dann schon ankommen. Das Tolle beim bergauffahren ist nämlich: Stürze sind zumeist nicht wirklich schmerzhaft… die Langsamkeit kann beim Radeln auch dein Freund sein 🙂
Gedanklich habe ich das Rennen hier schon erfolgreich beendet. Also ist die Frage: Ist es wirklich so wichtig das Event hier auch de facto zu Finishen? Die Antwort ist klar: Nein, es ist nicht wirklich wichtig. Ich fahre jetzt seit 2005 Jedermannrennen und Marathons und habe bisher noch alles gefinisht. Allerdings habe ich wichtige Entscheidungen immer spontan aus dem Bauch heraus getroffen. Und im Moment sagt mir mein Bauchgefühl, dass es jetzt reicht. Das Risiko der Abfahrt im Dunkeln, jetzt und in genau in dieser Situation, ist unnütz. Mein Motto bei Rennen und Marathons war und ist immer das Gleiche: Kein Sturz, keine Panne und nicht Letzter werden. Das gilt und zwar genau in dieser Reihenfolge. Klar, so ganz einfach ist die Entscheidung aufzuhören nicht. Es wäre auch komisch, wenn es einfach wäre. Wenn ich bei einem Marathon ganz ohne Ziel und Ehrgeiz losfahre, sollte ich es bleiben lassen. Ohne Ziel und Ehrgeiz kann man es nämlich auch einfacher, netter und billiger haben: man nennt das dann „Radtour“! Wie auch immer: Ich nehme den Helm und die Handschuhe ab und packe das Rad in den Besenwagen. Mit mir steigen auch noch zwei weitere Teilnehmer in der Besenwagen ein und damit aus dem Rennen aus. Zwei oder drei fahren jedoch weiter. Irgendwann ist immer das erste Mal. Und heute ist halt das erste Mal, dass ich ein Rennen nicht beende. Es gibt wirklich Schlimmeres, vor allem wenn ich bedenke, wie der Tag gelaufen ist. Es war ein herrlicher Tag und ein unvergleichliches Erlebnis. Allerdings ist mir das, in diesem Moment noch nicht so ganz bewusst. In dem Moment, in dem der Besenwagen wieder losfährt, ist mein Kopf leer. Es ist ein ganz anderes komisches Gefühl. Bei mir ist es in diesem Moment nicht Enttäuschung, aber es ist auch nicht Erleichterung. Ich hätte ja vielleicht noch weiterfahren können…? Die Stecke runter nach Beaufort ist wirklich recht kurvig, aber die Straße schient gut und breit zu sein. Meine Aussagen an dieser Stelle müssen vage bleiben, denn es ist ohne Zweifel und wie erwartet stockfinster. Die Straße geht nach dem Lac de Roselend durch den Wald und irgendwie ist die Beleuchtung hier eher bescheiden. Selbst der Fahrer unseres Autos „tastet“ sich nur langsam nach unten. Von Beaufort quält sich das Auto dann hoch zum Ziel nach Les Saisies. Ab Hauteluce bin überrascht: es befinden sich zu diesem Zeitpunkt noch etliche Fahrer auf den letzten Kilometern hoch zum Ziel. Wäre ich insgesamt nur eine halbe Stunde schneller gewesen, dann würde auch ich mich nun wie diese Fahrer auf der Anfahrt zum Ziel befinden. Wäre, hätte, würde…
Im Ziel angekommen bekomme ich nicht mehr viel mit. Es ist nach Mitternacht. Die Siegerehrung ist längst vorbei. Es sitzen noch einige Fahrer zusammen und unterhalten sich. Die Veranstalter haben bereits damit begonnen den „kleinen Zirkus“ wieder abzubauen. Und trotzdem: diejenigen Fahrer, die wir gerade überholt haben und die nun noch so nach und nach im Ziel eintreffen werden eifrig beklatsch von denen die noch vereinzelt herumstehen. Wer so eine Veranstaltung noch nie mitgemacht hat, der würde eine solche Szene vielleicht als seltsam oder gar trist empfinden: Eine Zieleinfahrt weit nach Mitternacht vor einer Hand voll Zuschauern, die auch noch mehr oder minder zufällig rumstehen. Doch der Eindruck täuscht. Der Triumph den diese Fahrer verspüren ist innerlich. Das Drumherum ist nett, aber für die meisten nur nebensächlich. Wer hier nicht unter den Top 10 ins Ziel fährt, sondern fast 7 Stunden nach dem Sieger, der fährt nur für sich selbst. Es erscheint paradox, aber ich glaube viele von denen, die nun als letztes ins Ziel kommen fühlen sich mehr als Sieger als diejenigen bereits vor Stunden den Zielstrich passiert haben. Genau darum sind Radmarathons wahrscheinlich auch so beliebt: Nur einer kann gewinnen, aber fast jeder kann ein Sieger sein. Ich packe mein Rad und meine sieben Sachen in mein Auto und freue mich auf ein Bett, eine Mütze Schlaf und den Milchkaffee am nächsten Morgen. Und am nächsten Morgen packe ich es dann auch wieder an. Mein Ziel: Hoch zum Cormet der Roselend und mal schauen wie die Abfahrt runter nach Beaufort so ist 🙂
Epilog:
Ich will es nicht schön reden. Natürlich wäre ich bei dieser ersten Auflage der Tour du Mont Blanc gerne auf dem Radl über den Zielstrich gefahren. Das „Zauber-Verb“ erfüllen: finishen! Wer ganz ohne Ambition bei einer solchen Veranstaltung startet, der ist irgendwie fehl am Platz. Den Spaß der Strecke und der Landschaft kann man wie bereits gesagt auch einfacher haben.
Für mich waren an diesem Tag die äußeren Bedingungen top. Meine Kondition und mein Gefühl haben gepasst wie selten zuvor. Aber es hat halt an diesem Tag einfach nicht gereicht. Ich habe ein paar taktische Fehler gemacht und vor allem war ich natürlich einen Tick zu langsam. An diesem Tag haben die kleinen Dinge den Unterschied gemacht. Und trotzdem steht unter dem Strich eine Leistung von 300 km und 7000 Höhenmeter in unter 17 Stunden. Man kann viel andere namhafte Marathons erfolgreich beenden und kommt nicht annähern an diese Daten ran. Schade, dass es nicht zum Finish gereicht hat. Aber über die Leistung an sich freue ich mich trotzdem. An diesem Tag und bei dieser Veranstaltung hat es halt nun einmal nicht gereicht, obwohl ich bis zuletzt daran geglaubt habe. Dafür wird es aber auch wieder einen anderen Tag mit Zweifeln geben, an dem ich mich letztlich wundern werde, wie gut es gelaufen ist und dass ich es geschafft habe. Das war also jetzt mein erstes Rennen mit einem DNF (did not finish / nicht beendet). An diesem Tag war letztlich die größte Herausforderung zu wissen wann Schluss ist. Diese Herausforderung habe ich an diesem Tag gemeistert und ich weiß jetzt einmal mehr, dass ich mich auf meine innere Stimme verlassen kann.
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