Rennen

Granfondo „Challenge Vercors“: Das Rennen

Wenn bis vor kurzem einmal jemand behauptet hätte, auch ich würde mir bei einem meiner Radrennen einmal nichts sehnlicher als kaltes Wetter wünschen, dann hätte ich denjenigen für verrückt erklärt. Ich und kaltes Wetter? Das passt normalerweise so gut zusammen wie Flip-Flops im Sibirischen Winter. Also normalerweise passt es gar nicht zusammen. Nicht so bei diesem Rennen. Regen hätte nicht gerade sein müssen. Aber auch Regen habe ich dann noch in geringer Dosis abbekommen… und genossen. Alles erträglich. Und woher kommt nun dieser abstruse Wunsch nach kaltem Wetter???

Eigentlich hasse ich Kälte auf dem Rad! Ich muss mal kurz abschweifen und übers Wetter philosophieren. Übers Wetter reden ja fast alle Menschen gerne und wenn es nur als Lückenfüller dient. Et alors, nun also: Es ist Ende Mai. Da wäre doch Sonne pur wünschenswert. Tja, wünschenswert wäre das schon. Und am besten noch 25 °C dazu und alle wären glücklich, inklusive mir. Nun ist es aber so, dass am Freitag den 19 Mai 2017, also dem Tag vor dem Rennen hier eine ganz hässliche Kaltfront über die Alpen zieht. Mit Regen, Wind und allem was man weder am Baggersee, geschweige denn auf dem Rad toll findet. Zu diesem Zeitpunkt, da es also Hunde und Katzen regnet ist es schon einmal utopisch zu glauben, dass es am darauffolgenden Samstag, also dem Tag des Rennens 25 °C hat. Also was hat es denn dann? Der französische Wetterdienst am Freitag sagt mir ca. 5-10 °C für Samstag am Startort in Villard-de-Lans voraus. Der Startort liegt auf ca. 1100 Metern Höhe und am frühen Morgen soll es bei eher 5 °C leicht regnen. Der tiefste Punkt des Rennens dagegen liegt auf gerade einmal 200 Metern Höhe im Tal. Und da hat es dann angeblich ca. 20 °C ab Mittag. Und Mittag ist nun ungefähr der Zeitraum, wo ich da unten im Tal durchfahren werde. Und von da unten aus geht es dann steil bergauf zum höchsten Punkt am Mont Noir bei ca. 1400 m. Danke für die Tipps an die Damen und Herren vom Wetterdienst! Und was mache ich mit der Info jetzt? Was ziehe ich da jetzt an? Eine Frage, die gelegentlich Frauen aus modischen Gründen quält, an der Stelle aber eher essentiell für die Gesundheit ist. Entweder ich friere erbärmlich am Start und im Ziel und zwischendurch im Tal ist alles eitel Sonnenschein. Oder ich packe mich mollig warm ein, genieße den Start und Zieleinfahrt, verglühe oder explodiere  aber unten im Tal.

Nach langem hin und her entscheide ich mich für die letztere Variante: Winterkombi mit allem Drum und Dran. Incoyable, Unglaublich! Ich hätte nie gedacht, dass ich Ende Mai mal Winterklamotten für ein Rennen anziehe. Und was soll ich sagen: es ist die goldrichtige Entscheidung!

Als ich um Punkt 8 Uhr mit dem Startschuss in die Pedale trete ist es so kalt, dass es noch keine Frage ist, ob ich mich richtig entschieden habe. Es geht flott heraus Villard-de-Lans Richtung Norden über nette kleine Wirtschaftswege. Die Spitzen der um 2000 m hohen Bergkette „Montagne der Lans“ die wir rechter Hand passieren sind in dichte Wolken gehüllt. Bei Lans-en-Vercors geht es dann Richtung Autrans in den ersten kleinen Pass hinein, den Col de la Croix-Perrin. Der hat zwar 1220 m, aber wir befinden uns hier ab Villard auf einer Hochebene. Daher geht dieser Pass erst einmal auf ca. 1000 m los ?. Am Ende muss man den Startort „Hochebene“ aber auch wieder büßen. Schließlich geht es ja von 200 m im Tal der Isère wieder hoch. Erst mal geht’s vom Col de la Croix-Perrin zurück nach Villard-de-Lans und dann in die nächste Steigung. Die erste Verpflegungsstelle lasse ich links liegen und ziehe mir im Fahren einen Apfel rein. Der Apfel ist für mich der Radradler-Snack. Wer braucht schon Bananen oder gar Energieriegel. Nehm ich schon auch ab und zu, aber Äpfel sind einfach unschlagbar! Der 1381 m hohe Col de Herbouilly ist leider ebenfalls in Wolken gehüllt. Daher geht es hier oben leider extrem ungemütlich und nass zu. Dafür fühle ich mich immer noch so optimal angezogen, wie man nur denken kann. Vor allem in der langen Abfahrt nach St. Martin und Richtung les Barraques wird dieses Gefühl doppelt und dreifach bestätigt. Die Abfahrt ist ziemlich heftig und die Straßen sind zum größten Teil noch nass. Bei der Abzweigung kurz vor les Barraques-en-Vercors ist der vorläufig tiefste Punkt mit ca. 691 m erreicht. Auf einer kleinen, malerischen Straße (D103) geht es schnurstracks Richtung Süden mit Kurs auf den Col de Rousset. Ganz langsam und durchaus angenehm steigt die Straße hier zunächst an. Vom Anstieg bekomme ich erst einmal nicht so viel mit. Kurz hinter der Abzweigung bei les Barraques habe ich mit einem anderen Radler zusammengeschlossen und gemeinsam machen wir Tempo. Ein paar Kilometer später holen wir eine kleine Gruppe ein und docken uns an. Unsere Gruppe harmoniert super bis bei Rousset der Anstieg merklich steiler wird. Kurz nach Rousset fällt die Gruppe daher fast zwangsläufig auseinander. Am Berg macht halt doch jeder sein eigenes Tempo. Ist auch besser so. Ich lasse es langsam angehen, denn das dicke Ende kommt am Schluss –  oder in diesem Fall eher in der Mitte – des Rennens. Immer noch bin ich froh um die warme Kluft, auch wenn mir jetzt im Anstieg der Schweiß schon ganz schön herunterrinnt. Alles kein Problem, solange ich nicht zu schnell fahre. Kurz vor dem Col de Rousset nimmt die Route mit einer 180 Spitzkehre wieder Kurs nach Norden. Der Col de Saint Alexis mit seinen 1222 ist auch wiederum kein Alpengigant, auch wenn dieser Anstieg jetzt schon 533 Klettermeter hatte. Bei der Verpflegungsstelle in Vassieux-en-Vercors halte ich kurz. Wasserflasche auffüllen und mal schauen was es da zu essen gibt. Energieriegel und Bananen … unter anderem ? Glücklicherweise gibt es auch noch was Anderes: kleine Madeleines. Ich verleibe mir  4 Stück ein und schließe das Mahl mit einer Banane (OK ich geb’s zu, so eine Banane ab und zu ist auch OK) und ein paar salzigen Keksen. Total angemacht hätte mich ja auch der leckere Käse. Aber erstens gab es keinen Rotwein dazu und zweitens können solche Experimente während dem Rennen böse nach hinten losgehen. Also kein Käse ☹. Mann, ist das hier zugig oben. Die freiwilligen Helferinnen an der Verpflegungsstelle tun mir echt leid. Merci beaucoup Mesdames – Vielen lieben Dank die Damen! Ohne euch würde so ein Rennen nicht funktionieren.

So gestärkt kann es jetzt gut weitergehen ?. Der kalte Wind bläst mir auf dem Weg nach Chapelle-en-Vercors volle Kanne ins Gesicht. Ist das hier oben auch der berüchtigte Mistral? Egal wie der Wind hier heißt, er macht mir im Moment das Leben echt schwer. Vorteil: Er ist kalt?. Die Jungs, die sich in meinen Windschatten gehängt haben machen sich wahrscheinlich warme Gedanken, denn auf gut bayrisch ist es saukalt! Bis les Barraques-en-Vercors harmoniert diese Gruppe mit Windschattenfahren aber wieder einmal super.

Kurz ein Wort zur „Gruppendynamik“, spich abwechselnden Windschattenfahren bei solchen Rennen: sehr oft funktioniert das bei solchen Jedermannrennen leider nicht gut. Das beste positive Beispiel war für mich bisher der Arber-Radmarathon. Über mehrere relativ lange Streckenabschnitte hatte ich damals super harmonierende Gruppen, bei denen sich die Leute in der Führungsarbeit super abgewechselt haben. Da kommt Speed auf und das macht Spaß. Das ist Radrennen. Radrennen ist Mannschaftssport und das geht auch, wenn man gar keine Mannschaft hat. Die Leute müssen nur mitdenken. Leider machen das viele Mitfahrer oft nicht bei diesen Jedermannrennen. Irgendjemand hängt sich einfach nur hinten rein und irgendwann zieht er dann an einem vorbei. Dankeschön ☹. Meine Erfahrung bei den Rennen in Frankreich war oft sehr gut. Keine Ahnung woran das liegt, aber oft klappt das hier super mit besagter Gruppendynamik. Ebenso wie heute ?

Und weiter geht’s! Und zwar massiv und lange bergab nach Pont-en-Royans bis auf nur noch 230 Meter über dem Meer. Jetzt folgt aber gleich der Teil, vor dem ich am meisten Angst hatte. Und wie befürchtet ist es hier unten nun um die Mittagszeit wirklich mollig warm. Zu warm für mich. Die Sonne scheint und es hat gefühlte 30 °C, wenn es auch tatsächlich nur 21 °C sind! Und schwupp, schon geht’s in die ultimative Steigung des Tages hoch zum Mont Noir. Der „schwarze Berg“ ist auch nur gerade einmal 1415 Meter hoch. Aber es ist halt immer eine Frage der Perspektive, was „hoch“ ist. Also von hier unten ist der Berg verdammt hoch. Satte 1200 Meter zum Klettern. Am Stück! Und bisher sind wir ja auch nicht gerade nur durchs Flachland gejagt. Nach einem knappen Kilometer in der Steigung muss ich anhalten. Ausziehen was geht, Jacke(n) aufmachen, kurze Handschuhe anziehen. Ich bin gerade mal 100 Meter geklettert und es fühlt sich schon voll nach Sauna an. Hier unten ist aber auch kaum ein Baum. Dafür hat’s eine tolle Aussicht ist hier. Aber in diesem Moment wäre mir eher nach Baum und Schatten mit etwas weniger Aussicht zumute. Und ich kann mich hier jetzt auch schlecht halb ausziehen. Mal ganz abgesehen davon, dass ich das ganze warme Anzieh-Zeug oben auf 1400 Meter wieder lieben werde. Da bin ich mir 100 % sicher. Wetten da oben ist es nach wie vor saukalt. Und es geht auch sofort in die nächste Abfahrt rein.

Also, was mache ich in dieser Situation am besten? Klar: so schnell wie möglich schauen, dass ich wieder oben in die Kälte komme. Aber eben nicht zu schnell, denn sonst zerfließe ich schon im unteren Teil des Berges wegen Überhitzung. Abgesehen vom fehlenden Schatten muss ich trotzdem zugeben, dass die Route über den Mont Noir  landschaftlich voll geil gewählt ist vom Veranstalter. Großes Lob! Und das Panorama wird mit jedem Höhenmeter besser. In dieser Phase überholen mich logischerweise einige Fahrer. Aber ich bleibe meiner Linie bis zur letzten Verpflegungsstelle bei Presles treu: ja nicht zu viel Pace, sonst fange ich an zu kochen. Und es wird eben auch mit jedem gewonnenen Höhenmeter kälter = angenehmer für mich. Zwei Madeleines, zwei Kekse, eine Banane und einen Apfel später (mein eigener Apfel… warum zum Donnerwetter haben die keine Äpfel an den Verpflegungsstellen) passiere ich die Marke der 1000 Höhenmeter. Noch 9 Kilometer zum Gipfel. Meine Herren, das ist noch ganz schön weit, vor allem bei dem Tempo, auch wenn es jetzt bei mir wieder besser läuft. Die erhoffte „Luftkühlung“ funktioniert ?. Um die 10 km/h pendelt meine virtuelle Tachonadel. Seit ganz unten am Anstieg bei Pont-en-Royans liebäuglte ich mittlerweile mit dem Zeitlimit für das Brevet d’Or. Rennen ganz ohne Ehrgeiz geht auch nicht immer. Gesund ankommen ist das Allerwichtigste. Aber wenn es gut läuft, dann sollte man auch mal schauen was sonst noch geht. Die Ziele hängen immer auch vom Rennverlauf ab. Wenn ich schon nach 20 Kilometern merke, dass nichts geht, dann geht eben nichts. Dann mache ich mir nichts vor und fahre locker weiter. Aber hier ist das Ziel jetzt schon in Reichweite und es läuft über den Tag weg super. Da ist noch mehr drin als nur ankommen. Das Zeitlimit für das Brevet d’Or liegt in meiner Altersklasse bei 6h 49 min. Bei Kilometer 118,4 bin ich mit einer Zwischenzeit von ca. 4 h in den Berg reingefahren. Das ist super und es könnte klappen, denke ich mir. Allerdings geht es zu Beginn eben jetzt nur schleppend den Berg hoch. Aber jetzt, bei Kilometer 128 geht wieder mehr bei mir und mit jedem Meter läuft es besser. Die Steigung bleibt konstant, aber ich werde immer schneller: 11, 12, 13 km/h… So sollte das sein. Ich habe mir das Rennen richtig eingeteilt, nicht überzogen und kleidungstechnisch richtig gepokert. Als ich oben an der Passhöhe angekommen bin, bin ich zuversichtlich. Zwischenzeit 5h 45 min. Jetzt geht es erst einmal mächtig ergab und dann noch ein kleiner giftiger Buckel. So sah es zumindest auf dem Profil aus. Mal schauen was da noch genau auf mich zukommt. Die Abfahrt kommt mir eeeewig lang vor ist ein wahrer Hochgenuss. Volle Konzentration auf jeden Zentimeter Asphalt. Jeder kleine Stein, jedes Schlagloch und jeder Kanaldeckel können entscheidend sein. Und trotzdem: Alles in und an mir erholt sich wieder. Und dann ist der Abfahrtsrausch vorbei. Über eine Brücke geht es links ab in eine Schlucht. Und was für eine Schlucht! Die „Gorges de la Bourne“ sind wirklich alleine schon ein landschaftliches Highlight. Aber jetzt ist keine richtige Zeit zum Genießen. Mache ich aber unbedingt morgen… bei einer lockeren Tour runter nach Pont-en-Royans. Jetzt schaue ich auf meinen Tacho: 6h 07 min und noch ca. 13 km. Das wird knapp, denn hier geht’s erst mal wieder ca. 7 km durch die Schlucht nach oben, bevor es wieder flacher wird. Meine zweite Luft kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Ich fühle mich sowas von gut drauf, dass ich gleich mal Fahrt aufnehme. Das hier ist mein Anstieg. Hochschalten. Unglaublich. Genau so muss sich das anfühlen. Ich werde immer schneller und fliege förmlich an einigen Fahrern vorbei. Viele waren vor dem letzten Anstieg hier sicher nicht mehr hinter mir. Aber jetzt sind es definitiv ein paar mehr die hinter mir sind. Kurz vor Ziel in Villard-de-Lans überhole ich noch einmal eine größere Gruppe und sprinte dann in den Schlussanstieg hoch ins Dorf. Schon weit vorher ist mir klar, dass ich das Zeitlimit von 6 h 49 min unterbieten werde. Zwar knapp, aber nicht so knapp, dass ich bei der Ausfahrt aus der Schlucht noch daran gezweifelt hatte. Nur eine Panne hätte mich noch aufhalten können. Aber heute passiert zu Glück nichts und so recke ich nach 6 h 41 min die Faust in Höhe als ich die Ziellinie überfahre. Die Sonne scheint, es ist immer noch saukalt, aber jetzt in diesem Moment ist mir das sowas von egal. Ein super Gefühl. A la prochaine – bis zum nächsten Rennen!!!

Servus und bis zum nächsten Rennen, dem Granfondo Stelvio
RK

 

Schnappschuss des Tages:

Letzter Strecken-Check beim Café au Lait am Vorabend

„Bildausfall“: Zeit fürs Rennen. Zeit für Fotos ist morgen wieder!

Wer Bilder von der tollen Gegend sehen will, der sollte sich den nachfolgenden Bericht der Tour durch die Combe Laval (Col de la Machine) anschauen.

Zwei Bilder gibts dann doch noch:

Feierabend für das Arbeitsgerät und…

 

… und Feierabend für den Fahrer. Santé und an Guadn!

Zusammenfassung

Streckenlänge: ca. 162 km
Höhendifferenz (Aufstieg): ca. 2960 m  gemäß eigener Aufzeichnung (3800 m laut Angabe der Ausschreibung)
Durchschnittsgeschwindigkeit (mit Pause & Stops): ca. 24,4 km/h
Durchschnittsgeschwindigkeit (in Bewegung): 25,1 km/h

Nützliche Links

Strecke
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volle Distanz: 162829 m
Gesamtanstieg: 3228 m
Download

 Und dann hier noch mehr Daten (wen es interessiert):